Koalitionsvertrag

80 Prozent von der Hälfte

Stochblog

80 Prozent von der Hälfte

Dass die meisten Leute Fußball unterhaltsamer finden als Politik, hat verschiedene Gründe. Ein Fußballspiel ist in aller Regel nach etwas mehr als 90 Minuten entschieden, während es in der Politik viel länger dauern kann. Und beim Fußball verstehen (fast) alle die Regeln, bei der Demokratie bin ich mir da nicht mehr so sicher.

Dass ich mir nicht mehr so sicher bin, ging schon nach der Bundestagswahl los, als es das Gemecker über das BSW gab. Können die an der Fünfprozenthürde scheitern, wo sie doch FAST fünf Prozent hatten? Sorry, aber würde man im Fußball ein Tor zugesprochen bekommen, weil man doch nur ganz knapp danebengeschossen hat? Nein, entweder Tor oder nicht, sonst gibt es keine Regeln und auch kein Spiel.

Und weiter geht es: Nein, CDU und SPD hatten nicht die absolute Mehrheit der Stimmen, sie haben aber die absolute Mehrheit der Sitze im Bundestag. Wegen der Regeln, die es übrigens schon immer gab, über die man aber jetzt häufiger spricht, weil immer mehr Leute sie nicht mehr kennen.

Nun also der Mitgliederentscheid über den Koalitionsvertrag für die nächste Bundesregierung. Ja darf die SPD das denn? Ja darf sie, hat sie auch immer wieder gemacht, zum Beispiel im Jahr 2013. Oder im Jahr 2018. Aber das wissen viele nicht und wundern sich. Wer sich im Fußball nicht auskennt, wird sich auch über ein Abseits wundern. Nur wundern sich dort weniger Leute, und sie wundern sich verschämt im Stillen. In der Politik wundert man sich laut, und die Medien wundern sich mit.

Und nun: Zustimmung beim Mitgliederentscheid. Hohe Zustimmung sogar und manche steile Spekulation der vergangenen Tage entlarvt sich als ebenso wild wie unbegründet. 84 Prozent für den Koalitionsvertrag, das ist nach allen Regeln eindeutig. Und, wenn ich mir diese Wertung gestatten darf, auch sehr erfreulich.

Aber was tun, wenn jemand die Regeln einfach nicht versteht? „Ja, 84 Prozent, aber bei nur 54 Prozent Beteiligung“. Da kommen wieder die, die im Fußball wenigstens ein halbes Tor wollen. Die SPD-Mitglieder haben entschieden, in ausreichender Menge, mit klarem Ergebnis. Was soll denn nun noch sein?

Ach so, nur 84 Prozent von 54 Prozent. Von denen, die nur 16,4 Prozent der Stimmen geholt hatten, bei nur 82,5 Prozent Beteiligung. Das macht dann … Schmarrn.

Weiß jemand noch, wie das Votum bei früheren Mitgliederentscheiden ausfiel? 2013 waren 76 Prozent der abstimmenden Mitglieder für eine Koalition mit der CDU, 2018 waren es 66 Prozent. Damals schrieben die Medien, es gebe eine „breite Zustimmung“ in der SPD. Und heute sind 84 Prozent Zustimmung plötzlich wackelig?

Ich rede viel über Demokratie und ihre Vermittlung, für junge Menschen wie für alle anderen. Und ja, mir fällt als Vergleich eben immer wieder der Fußball ein. In einem Spiel gewinnt der, der mehr Tore schießt. Auch wenn die anderen besser spielten oder schöner, wenn sie Pech hatten oder verletzte Leistungsträger. Und auch das schönste Abseitstor ist und bleibt eben ein Abseitstor. Wer das nicht akzeptiert, kann nicht Fußball spielen.

Wir erleben im Land, wie selbst demokratische Parteien sich immer schwerer tun mit den Regeln. Die FDP verspricht sich etwas von einer künstlichen Verkleinerung des Landtags, und dass das erste Volksbegehren bereits deutlich gescheitert sind, interessiert sie nicht, sie ziehen jetzt noch einmal los. Das Volk ist gefragt, aber nur, so lange es der eigenen Position zustimmt. Wenn nicht, müssen wir das nochmal wiederholen, oder?

Was wir im Bund erleben, ist ähnlich besorgniserregend: Immer mehr Menschen verstehen die Regeln nicht, empören sich über Abläufe und Ergebnisse, die sie vor wenigen Jahren noch gar nicht zur Kenntnis nahmen. Früher machte man sich schlau, wenn man etwas nicht verstand. Man wollte verstehen. Heute reagieren viele Leute anders. Ich verstehe etwas nicht? Dann bin ich nicht neugierig, sondern dagegen.

Fußball hat durchaus etwas von Politik. Man muss seine Gegner nicht mögen, man darf für den eigenen Sieg trommeln, Fahnen schwenken, sich heiser schreien, man darf Tag und Nacht daran arbeiten, alle anderen zu übertreffen. Aber ob es dann auch klappt, zeigt sich im Spiel, und dort wird nach klaren Regeln entschieden. Sonst hat das Spiel keinen Sinn.

Ich kann vielen Leuten wünschen, jetzt erst einmal tief Luft zu holen und die nächste Bundesregierung erst einmal ins Amt kommen zu lassen, ehe man weitermeckert. Und so lange einfach mal ein paar Regeln unserer Demokratie durchlesen, was beim Beobachten des künftigen Spielverlaufs enorm nützlich ist. Mindestens bei 80 Prozent der Hälfte.

Zeit der Zumutungen

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Zeit der Zumutungen

Es soll an dieser Stelle ja immer um Tagespolitik gehen, aber manchmal muss ich halt auch mal ins Grundsätzliche abbiegen. Wenige Tage vor der Bundestagswahl habe ich hier mal prognostiziert, wer im März Bundeskanzler ist. Olaf Scholz, war meine Vorhersage – ganz einfach, weil entgegen landläufiger Meinungen (und etlicher Schlagzeilen) bei einer Bundestagswahl keine Kanzlerin und kein Kanzler gewählt wird und nicht am Tag nach der Wahl in Berlin die Umzugswagen anrücken. Olaf Scholz ist auch jetzt, Mitte April, noch Kanzler. Und er bleibt das so lange, bis Friedrich Merz im Amt ist. Entgegen landläufiger Meinungen (und etlicher Schlagzeilen) ist Deutschland nicht „ohne Regierung“.

Ich habe jetzt mit landläufigem Unsinn angefangen und kann gleich so weitermachen: Offenbar hat ein Teil dieses Landes und seiner Medien im Moment ein ganz besonderes Problem mit der nächsten Bundesregierung: Wie nennt man sie? „Ampel“ war doch so schön kurz, passte in Überschriften und produzierte Autofahrer-Antipathien („Schon wieder eine Ampel!“). Und nun? Marienkäfer-Koalition? Lava-Koalition? The Koalition formerly known as Groß? Kleiko? Wie soll man das denn nennen? Ich habe auch hier einen Tipp: Bundesregierung. Geht immer. Und dann vielleicht mal auf die INHALTE schauen statt auf die Überschriften.

Weiter mit landläufigem Unsinn: Die Koalitionsverhandlungen waren weder ein Strategiespiel noch ein Fingerhakeln, und es ist, mit Verlaub, dämlich, mit Spielanalysen wie beim Fußball um die Ecke zu kommen. Dass so viele Ergebnisse den Forderungen der SPD entsprechen ist weder Zufall noch ein Punktsieg, sondern entspricht schlicht der Faktenlage: Wir müssen investieren, wir müssen die Gesellschaft zusammenhalten, wir müssen Arbeitsplätze sichern und Wohnungen bauen. Wer behauptet, wir müssten Arbeitsplätze vernichten und Wohnungen abreißen?

Umgekehrt werden wir feststellen, dass eine mehrheitlich aus CDU und CSU bestehende Bundesregierung immer wieder Entscheidungen treffen wird, die für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten mindestens einen schweren Kompromiss bedeuten. Das kann nicht anders sein, und das muss auch jetzt schon deutlich gesagt werden, während unsere Mitglieder über eine Regierungsbeteiligung abstimmen. Nach dem Wahlergebnis vom Februar wird eine neue Regierungskoalition sich ihre Politik nicht von SPD-Parteitagen in den Block diktieren lassen, das sollte uns allen klar sein. Ja, ich bin zufrieden mit diesem Koalitionsvertrag, und ich finde, wir alle in der SPD können damit zufrieden sein. Aber wir können uns auch darauf einstellen, dass es für uns Zumutungen geben wird.

Genau das sollten wir aber auch allen Leuten klarmachen, überall in Deutschland. Wir haben als SPD erreicht, dass Deutschland wesentlich besser auf die Krisen unserer Zeit reagieren kann, mit mehr Geld, mit mehr Entschlossenheit. Wir haben erreicht, dass sich die nächste Bundesregierung mehr zumuten kann. Aber die Weltlage ist unglaublich unsicher geworden. Allein mit seiner Zollwut hat US-Präsident Donald Trump in wenigen Tagen an den Börsen der Welt Finanzwerte von rund neun Trillionen Euro vernichtet, das ist ZEHN MILLIONEN MAL mehr Geld, als das gesamte Finanzpaket der nächsten Bundesregierung beinhaltet. Da muss man schlucken – und dann feststellen, dass niemand garantieren kann, dass solche Beben an Deutschland einfach vorbeiziehen werden.

Nein, wir müssen uns darauf einstellen, dass sich auch unsere Gesellschaft etwas zumuten muss. Als SPD sind wir mit am Ruder, als SPD wollen und werden wir verhindern, dass diese Zumutungen sozial einseitig ausfallen. Wir wollen Härten vermeiden und denen helfen, die Hilfe brauchen. Aber wer meint, dass in den kommenden Jahren alles beim Alten bleiben kann, der sollte mal wieder Nachrichten schauen. Das sollten wir nicht verschweigen. Nicht vor und nicht nach der Abstimmung in der SPD, nicht in der Partei und nicht in der Öffentlichkeit. In den schwersten Zeiten seit zwei Generationen wird es für uns nicht leichter werden. Ob wir es wollen oder nicht, die Welt wird uns mehr zumuten.

Und auch das gilt wieder genauso für Baden-Württemberg. Ich habe mich gefreut, dass meine Initiative, sich über die Parteigrenzen hinaus über ein Investitionspaket für das Land zu unterhalten, auch bei den Grünen und der CDU sehr offen aufgenommen wurde. Doch bei der Debatte im Landtag wurde ich den bösen Verdacht nicht los, dass die Landesregierung selbst in diesen Zeiten nicht aus dem Mus kommt. Irgendwie will man abwarten, der Bund soll erstmal und die Kommunen, die EU und der Schwäbische Albverein… aber bitte nicht die grün-schwarze Landesregierung. Habe ich gerade über die Leute geschrieben, die meinen, in diesen Zeiten könne alles beim Alten bleiben? Auf der Stuttgarter Regierungsbank sitzen einige dieser Leute. Das ist besorgniserregend, und es ist falsch. Donald Trump wartet so wenig auf Winfried Kretschmann wie Xi Jinping. Es wird Zeit für eine Landesregierung, die sich etwas zumutet.