Autor: Andreas Stoch

Nachhaltig nichts gelernt

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Nachhaltig nichts gelernt

Man muss kein Bildungspolitik-Nerd sein, um stutzig zu werden: Das Land Baden-Württemberg will hunderten frisch ausgebildeter junger Lehrerinnen und Lehrer für unsere Gymnasien keine Stellen anbieten. Man braucht sie gerade nicht, heißt es. Man braucht keine Lehrkräfte? Wie bitte?

Die Regierung aus Grünen und CDU verweist auf das neunjährige Gymnasium: Das haben sich Eltern und Schüler erstritten, gegen den Willen der aktuellen Landesregierung. Denn G9 klappt zwar besser als G8, braucht aber mehr Lehrkräfte. Und die, so hieß es dann aus dem Kultusministerium, seien erstens teuer und zweitens gar nicht da. Weil Lehrkräfte fehlen.

Nun, G9 kommt. Aber natürlich nicht auf einmal, sondern nach und nach. Also machen Schülerinnen und Schüler noch ein paar Jahre nach acht Jahren das Abitur, während die unteren Klassen in ein Gymnasium mit neun Jahren starten. Während dieser Zeit haben wir also obere Klassen, in denen noch ein neuntes Schuljahr fehlt, haben aber untere Klassen, in denen die Zahl der Wochenstunden sinkt, weil man ja ein Jahr länger Zeit hat. Ein paar Jahre langt gibt es also im Schnitt ein paar Stunden weniger zu unterrichten.

Genau diesen kleinen Abschnitt nutzt Grün-Schwarz jetzt, um hunderte junger Lehrkräfte in die Wüste zu schicken. Sie könnten ja an andere Schulen gehen, heißt es, so als ob Grundschullehrkräfte nicht eine deutlich andere Ausbildung hätten und an Grundschulen jeder Bewerber eingestellt würde. Im Gegenteil: Es gibt momentan auch an den anderen Schularten wenig Stellen, da würden die abgewiesenen Gymnasiallehrkräfte also noch für zusätzliche Konkurrenz sorgen.

Es heißt auch vom Land, die neuen Lehrer könnten ja in ein paar Jahren noch mal wiederkommen – so als ob sich junge Leute mal eben einfrieren könnten, bis man sie braucht.

Wie abgrundtief dämlich das ist, kann ich kaum in Worte fassen. Denn in Baden-Württemberg wurden jetzt nicht nur jahrelang Lehrkräfte händeringend gesucht, wurde nicht nur sogar mit einfältigen Plakatkampagnen für den Lehrberuf geworben – und Baden-Württemberg fehlen Lehrkräfte, und zwar überall. Jede zehnte Schulstunde fällt aus wegen Lehrkräftemangel, für erkrankte Lehrerinnen und Lehrer gibt es keine Vertretungen. Individuelle Förderung, mehr Fürsorge an Brennpunktschulen, Demokratie stärken – immer heißt es, es fehlten leider die Lehrkräfte. Und nun setzt man die Lehrkräfte, die es hat, auf die Straße?

Als ich Kultusminister wurde, hatte die Regierung noch vor, im ganzen Land über 12 000 Lehrerstellen abzubauen. Es würden ja weniger Schüler, hieß es. Diese Prognosen waren schon damals veraltet, die Zahl der Kinder stieg, die Kommunen meldeten Mangel an Kita-Plätzen. Dass diese Kinder später wohl auf eine Schule gehen würden – man hatte es übersehen. Mit viel Geduld und Spucke konnte ich die Streichpläne abwenden. Mehr Lehrkräfte wurden es aber nicht, obwohl wir dann schnell merkten, dass wir viel mehr gebraucht hätten.

Nun hält sich Grün-Schwarz wieder mal ganz fest die Augen zu: Das G9 läuft an, es wird bald mehr Lehrkräfte brauchen. Der Bedarf steigt sowieso, und der Ganztagsbetrieb kommt auch. Dazu rollt eine Welle an Pensionierungen auf uns zu. Uns werden bald noch viel, viel mehr Lehrkräfte fehlen. Und was macht das Land heute? Junge Lehrer wegschicken. Die grün-schwarze Landesregierung redet gerne von Nachhaltigkeit. Verstanden hat sie sie nicht. Und sie lernt auch nichts dazu.

Die SPD wird dafür kämpfen, dass alle gut qualifizierten jungen Lehrkräfte auch eine ordentliche Stelle bekommen. Weil sie das verdient haben, aber vor allem, weil wir sie alle brauchen. Heute schon und morgen schon zweimal.

Die SPD Baden-Württemberg hat ein Portal für angehende Lehrkräfte eingerichtet, die zum kommenden Schuljahr nicht in den Schuldienst übernommen werden.

https://www.spd-bw.de/jede-lehrkraft-ins-klassenzimmer

Hier können alle betroffenen Referendarinnen und Referendare ihre Fälle in anonymisierter Form schildern – damit wir verstehen, wie man uns austricksen will. Und damit wir besser dagegen vorgehen können.

Betrunken am Steuer

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Betrunken am Steuer

Nein, die SPD wird die AfD nicht verbieten. Überrascht? Dann lohnt es sich, weiterzulesen. Denn dieser Tage reden wieder sehr viele Leute über Dinge, die sie nicht richtig verstanden haben.

Die SPD wird die AfD nicht verbieten, weil die SPD das gar nicht kann. Auch die CDU kann das nicht und nicht die Grünen. Verboten wird eine Partei vom Bundesverfassungsgericht, und verboten wird sie, wenn sie gegen unsere Verfassung arbeitet und das so erfolgreich tut, dass sie die Demokratie ernsthaft gefährdet. Es gab schon Verbote, die daran gescheitert sind, dass eine Partei zwar klar extremistisch, aber eben viel zu unbedeutend war. „Ihr würdet nicht über ein Verbot reden, wenn die AfD nicht so groß geworden wäre“? Ja, kann sein. Das ist aber nicht Strategie, sondern Rechtslage.

Eine Partei wird nicht verboten, weil andere Parteien das wollen. Eine Partei wird verboten, wenn sie bei der Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht durchfällt. Dass geprüft wird, kann aber die Bundesregierung beantragen. Oder der Bundestag. Oder der Bundesrat. Und die SPD ist dafür, dass das geschehen soll.

Machen wir es mal ganz einfach: Vor Euch fährt jemand mit dem Auto, der höchstwahrscheinlich betrunken am Steuer sitzt. Ihr selbst könnt ihn nicht anhalten. Aber Ihr ruft die Polizei. Die kann das. Und wenn jemand vollkommen betrunken am Steuer sitzt, verliert er seinen Führerschein. Nicht, weil Ihr das wollt, nicht, weil Ihr die Polizei gerufen habt. Er verliert seinen Führerschein, weil er eine echte Gefahr für uns alle war.

Die AfD fährt sozusagen Schlangenlinien in der Politik. Sie fährt über rote Ampeln und kommt verkehrt die Einbahnstraße runter. Das ist nicht nur unser Eindruck im Landtag oder im Bundestag, das ist auch der Eindruck unseres Verfassungsschutzes. Die AfD ist brandgefährlich.

Wer heute AfD wählt, wird nach einem Verbot nicht die SPD wählen. Vielleicht die nächste radikale Populistenpartei. Und doch hat die Demokratie sich dann gewehrt gegen ihre Feinde. Und unsere Demokratie soll eine wehrhafte sein.

Und ja, eben weil sich das Bundesverfassungsgericht eben nicht in seine Urteile reinreden lässt, ist es nicht unmöglich, dass eine Prüfung der AfD nicht zu einem Verbot führt oder nur zu einem teilweisen Verbot. Vielleicht findet der Autofahrer vor Euch ein paar echt gute Ausreden. Man kann das nicht ausschließen. Aber deswegen keine Polizei rufen, wenn einer mit Schlangenlinien Auto fährt? Das wäre dumm auf der Straße. In der Politik wäre es das auch.

Wenn Ihr die Polizei ruft, weil Ihr einen Betrunkenen im Auto seht, kommt Ihr deswegen selbst nicht schneller an. Ihr bekommt auch nicht sein Auto als Belohnung. Ihr habt gar nichts davon. Ihr habt einfach nur das Richtige getan.

 

Unehrlich Brothers

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Unehrlich Brothers

Ich weiß nicht, ob Ihr schon einmal eine Show der Ehrlich Brothers gesehen habt. Das ist auf jeden Fall unterhaltsam, und ich mag es auch, dass die Ehrlich Brothers offen dazu stehen, keine Zauberer oder Magier, sondern eben einfach nur Illusionisten zu sein. Ihre Shows sind fantastisch, aber es sind eben nur Tricks und Täuschungen. Faszinierend, wie man uns reinlegen kann.

Dass ich öfter an die Ehrlich Brothers denken muss, liegt auch an der aktuellen Landesregierung. Dass Winfried Kretschmann nicht zaubern kann ist in Ordnung, dass er in der Politik lieber zuschaut als zu handeln ist nicht in Ordnung. Dass er selbst in höchster Not nicht zu echten Maßnahmen, sondern nur zu Zaubertricks greift, ist schlimm.

Unseren Kommunen geht das Geld aus, und die Landesregierung inszeniert Nothilfe mit Milliarden. Allerdings ist das nur Geld, das den Kommunen ohnehin zusteht und noch beim Land liegt. Man gibt es etwas früher als üblich, aber das war es auch schon. Aber Simsalabim, Tusch und Spot an – schon sieht es aus, als habe die Regierung wirklich etwas getan. Und als einige (wenige) Journalisten dem Ministerpräsidenten vorrechnen, das Land habe ja nicht wirklich mehr Geld ausgegeben, kontert er: Hätte das Land das Geld der Kommunen noch länger gebunkert, hätte es 30 Millionen Euro mehr an Zinsen eingenommen. Er verkauft seine ZINSAUSFÄLLE als Wohltat für die Kommunen. Aber Simsalabim, das klingt nach viel Geld, die allermeisten Medien sind beindruckt: Wieder 30 Millionen mehr für die Kommunen. Faszinierend, wie man uns reinlegen kann.

Und weil das so gut klappt ist, macht die Landesregierung gleich weiter: Dieser Tage wedelte Minister Lucha mit dem Zauberstab. Simsalabim, Tusch, Spot – und Millionen für Krankenhäuser und die Kommunen, damit das Teilhabegesetz umgesetzt werden kann. Nur, dass diese Millionen schon im vorigen Herbst vereinbart wurden. Schon damals feierte sich das Land, behielt das Geld dann aber noch sehr lange in der eigenen Tasche – wegen der Zinsen, mal wieder. Jetzt ist die Hilfszusage vom Herbst so lange her, dass man ein und dieselben Millionen gleich noch einmal als Schlagzeile verkaufen will. Wenn das so weitergeht, wird das Land jeden Euro künftig dreimal bewilligen.

Ja, ich weiß: Tue Gutes und rede drüber. Aber diese Landesregierung ist längst soweit, dass nur noch das Reden bleibt, getan wird gar nichts mehr. In Wahrheit hilft und handelt Grün-Schwarz so wenig, wie die Ehrlich Brothers Frauen zersägen oder Autos schweben lassen. Es soll nur so aussehen. Es ist nur eine Täuschung.

Bin ich neidisch, dass sie damit durchkommt? Nicht wirklich. Denn das ist zwar ordentlicher Illusionismus. Aber ganz miese Politik.

 

Tiefschlag für das Original

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Tiefschlag für das Original

Aua. Die jüngste Sonntagsfrage hat weh getan. Nicht nur der SPD, sondern auch mir persönlich. So wie wahrscheinlich allen Leuten, die sich mit Überzeugung und Herzblut für die SPD ins Zeug legen. Zehn Prozent? Das tut weh. Sehr weh sogar.

Was ist passiert? Wer ist da schuld? Was müssen wir ändern? Wir reden da drüber, sehr viel, in der Partei, im Landesverband, in der Landtagsfraktion. Das Thema lässt uns logischerweise keine Ruhe. Aber warum genau wir diesen Tiefschlag kassiert haben, wissen wir noch nicht.

Klar, es gibt Ansätze: Über den ganzen Bundestagswahlkampf wurde die Migration als Deutschlands allergrößtes Problem aufgeblasen, die CDU rannte dem Spuk hinterher und die Medien auch… und am Ende sogar die SPD. Ich habe immer wieder gewarnt, dass damit so viele wichtige Themen auf der Strecke blieben. Themen, bei denen die SPD Lösungen hat. Aber nein: Es wurde die Migration, die Migration, die Migration. Wir wissen: Das hat keine AfD-Wähler zur CDU gelockt (sondern umgekehrt), und keine CDU-Wähler zur SPD. Es hat nur die Linkspartei aus dem Keller geholt, die sich dem Spuk als einzige frontal entgegenstellte: Nein, Menschen aus anderen Ländern sind erst mal kein Risiko, sondern eine Chance. Das meinen wir in der SPD auch. Früher haben wir das aber noch laut gesagt.

Und ja, auch die Debatte um die Zukunft von Saskia Esken war nicht hilfreich. Wir wussten alle: Personaldebatten in der SPD verkaufen sich gut, und so wenig man uns sonst zuhören will, so sehr hängt man an unseren Lippen, wenn es nach „Knatsch bei den Genossen“ riecht.

Das erklärt ein Minus hier und ein Minus da. Aber es erklärt keinen Sturz auf zehn Prozent. Die Stimmung, die hinter den Ergebnissen solcher Umfragen (und auch Wahlen, leider) steht, ist erratisch, gefühlig, aus dem Bauch heraus. Und da scheinen wir als SPD ein ganz, ganz großes Problem zu haben. Denn tatsächlich verkaufen andere Parteien ja oft bloße Versprechen: „Wähle uns, dann hast Du was für das Klima getan!“ – „Wähle uns, dann wird alles wieder wie in der guten alten Zeit“. Die SPD ist die regierungsfähigste Partei Deutschlands, sie koaliert mit allen demokratischen Parteien, steht im Bund und in vielen Ländern und noch viel mehr Kommunen am Steuer. Die SPD liefert. Aber was verspricht die SPD? Ja genau – das scheint zu wenig zu sein.

Ich will das nicht akzeptieren. Ich kann es nicht akzeptieren. Weil ich mit Leib und Seele Sozialdemokrat bin. Und weil ich sehe, wie unsere Positionen oft dermaßen richtig sind, dass selbst politische Mitbewerber gar nicht anders können, als sie zu übernehmen. Wie lange hat die SPD dafür gestritten, endlich viel Geld in die Hand zu nehmen und den Investitionsstau in Deutschland zu überwinden? Immer gegen ein Pfeifkonzert der CDU, die dann aber ganz schnell unsere Position übernahm, als es ans Regieren ging.

Diese Woche hat CDU-Spitzenkandidat Manuel Hagel öffentlich die Frage gestellt, warum Kitas in Baden-Württemberg nicht kostenlos sind – das sei immerhin sehr wichtige Bildung. Sind es sieben oder acht Jahre, die wir als SPD genau das gefordert haben, immer gegen ein Pfeifkonzert der CDU?

Überall höre ich, die Leute wollten keine Plagiate, sondern die wirklichen Markenprodukte. Sie wollten keine Kopien, sondern das Original. Und überall höre ich, die Leute wollen Fortschritt. Und den bitte schnell.

Die SPD ist das Original, wenn es um Fortschritt geht. Und es würde viel, viel schneller gehen in unserem Land, wenn wir nicht immer lange Jahre warten müssten, bis auch die anderen Parteien einsehen, wo die SPD Recht hat.

Bis zur Landtagswahl im kommenden Frühjahr können wir keine neue SPD bauen. Das müssen wir aber auch gar nicht. Wichtig ist, dass wir zu einem klaren Profil und zu mutigen Aussagen finden, dass wir uns nicht restlos diktieren lassen, zu welchen Themen wir uns zu äußern haben. Und dass wir an neuen Orten auf neue Weise mit neuen Leuten ins Gespräch kommen. Eine Zehnprozent-Partei kann nicht in ihrer eigenen Blase bleiben.

Das müssen wir schaffen bis zur Wahl. Und das schaffen wir auch.

Wie man sich eine Staatskrise bastelt

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Wie man sich eine Staatskrise bastelt

Natürlich war ich auch überrascht: Friedrich Merz verfehlte im ersten Wahlgang die nötigen Stimmen und wurde nicht sofort zum Bundeskanzler. Warum, werden wir wahrscheinlich nie erfahren. CDU/CSU und SPD haben zwölf Stimmen mehr als Merz brauchte. Dachte da jemand, ein paar Stimmen weniger schadeten nicht? Nur so ein Dämpfer? Kann sein, denn nach dem Schock im ersten Wahlgang kam es im zweiten Wahlgang genau auf diese Weise: 325 Stimmen, nicht ganz 100 Prozent bei Union und SPD aber komfortabel mehr als nötig. Friedrich Merz ist Kanzler.

Nein, schön und elegant war das nicht und auch kein Traumstart in die Kanzlerschaft. Aber liebe Leute, es war auch keine Staatskrise und kein Chaos und keine Anarchie und was ich sonst noch alles an Blödsinn lesen musste seit dem 6. Mai. Es war eine Premiere in der Geschichte der Bundesrepublik (noch nie hat eine Kanzlerin oder ein Kanzler einen zweiten Wahlgang gebraucht), aber schon am Dienstag haben wir alle gelernt: Auch für diesen Fall ist vorgesorgt. Im Grundgesetz, in der Geschäftsordnung des Bundestags. Ja es gab Verwirrung über die Frist bis zu einem zweiten Wahlgang, weil man das eben in über 75 Jahren noch nie brauchte. Aber dann stellte sich heraus: Alles geregelt, alles vorgesehen.

Ich bin von Haus aus Rechtsanwalt und habe gerne Recht. Mitte Februar habe ich in diesem Blog erklärt, dass Olaf Scholz auch im März und im April noch Bundeskanzler sein wird – egal, wie die Wahl ausgeht. Weil Deutschland nämlich immer eine Kanzlerin oder einen Kanzler hat, im Zweifelsfall einen geschäftsführenden. Angela Merkel hat das einst bald ein halbes Jahr lang gemacht. Auch dafür ist vorgesorgt in unserem Land. Und vor ein paar Wochen erst habe ich hier geschrieben, wie krachsauer es mich macht, wenn selbst klassische Medien den Eindruck erwecken, Deutschland habe nach einer Wahl „keine Regierung“.

Wir haben viele Dinge in der Politik erlebt, die wir in der Bundesrepublik lange Jahrzehnte nicht erlebt haben: Statt drei oder nur zwei Parteien in einem Parlament plötzlich vier oder fünf oder sechs, statt der alten Parteigiganten mit 40 oder noch mehr Prozent plötzlich ein breites Mittelfeld. Wir haben die erste Dreiparteien-Koalition für eine Bundesregierung erlebt und wie die kleinste Partnerin sie in einem Akt der Profilneurose sprengte. Wir haben vorgezogene Neuwahlen erlebt.

Wir haben viel Aufregung erlebt. Aber eben kein Chaos. Wir haben bei der Ampel eine Regierungskrise erlebt, aber keine Staatskrise. Denn die schlauen Menschen, die vor bald 80 Jahren unsere Verfassung entwickelt haben, hielten all das für möglich. Mehr noch, sie hielten das für normal in einer Demokratie.

Deutschland war lange Jahre dafür bekannt, dass in seiner Bundespolitik sehr wenige Parteien mit riesigen Anteilen operieren. Dass Kanzlerinnen und Kanzler zehn oder 15 oder noch mehr Jahre im Amt bleiben. Dafür war Deutschland berühmt – weil es eben so selten war. Mehrere kleinere Parteien im Parlament? Koalitionen, die sich zerstreiten? Vorgezogene Neuwahlen? Regierungschefs, die nicht 16 Jahre lang wiedergewählt werden? In anderen Ländern ist das seit jeher normal, und ich meine jetzt nicht Italien, sondern auch Frankreich oder die Niederlande, Dänemark oder Spanien.

Diese Länder funktionieren alle, zum Teil haben sie ihre Hausaufgaben sogar besser gemacht. Und bei aller Liebe zu unserer einheimische Sehnsucht nach Ruhe und Stabilität: Ruhe und Stabilität alleine lösen keine Probleme. Wir haben in Baden-Württemberg eine Landesregierung, die sich pausenlos selbst dafür rühmt, dass sie nicht streitet. Das stimmt sogar, aber Grüne und CDU streiten deswegen nicht, weil es nichts zu streiten gibt: Es wird nicht gehandelt, es wird nichts getan. Die Wohnungsnot ist immens, die Schulen werden immer schlechter, die Autowirtschaft kriselt, die Energiewende kommt nicht in Fahrt. Das Land rutscht in vielen Rankings immer tiefer – und seine Regierung klopft sich auf die Schultern, weil sie dabei zuschaut, ohne zu streiten. Wäre es nicht ein klitzekleines bisschen besser, wir hätten eine Landesregierung, die sich ab und zu streitet, dafür aber auch mal anpackt und Probleme löst?

Also: Ob die neue Bundesregierung gut arbeitet oder nicht, wird man an ihrer Arbeit messen müssen, wer die Kanzlerwahl mit einem Horoskop verwechselt, hat auch sonst einiges durcheinandergebracht. Und wir sollten aufhören, uns ständig Staatskrisen basteln zu wollen. Alle, die jetzt durcheinander rennen wie die Hühner bei Gewitter, tun genau denen einen Gefallen, die unsere Demokratie verunglimpfen und mies machen wollen. Ja, das Ende der Ampel war nicht glänzend. Und neun Stimmen mehr als unbedingt nötig ist kein Traumergebnis bei einer Kanzlerwahl. Aber ich lebe lieber in einer Demokratie mit dünnen Mehrheiten und vorgezogenen Neuwahlen als in einem Land, in dem der autoritäre Präsident bei Scheinwahlen immer 100 Prozent der Stimmen bekommt.