Stochblog

Bremser mit Tunnelblick

Wir kennen das ja: In Deutschland gibt es ungefähr 60 Millionen Menschen, die mehr Ahnung vom Fußball haben als der Bundestrainer, auch wenn sie noch nie in ihrem Leben ein Team gecoacht haben. Und momentan leben wir in einem Land mit Millionen extrem versierten Kennern der Bundesfinanzen. Nicht nur die, die schreiben, das Bundesverfassungsgericht habe die Bundesregierung „verurteilt“, und die nun darauf warten, dass Finanzminister Lindner ins Gefängnis muss. Auch die, die einfach nicht kapieren, dass nicht Olaf Scholz 60 Milliarden Euro fehlen, sondern der Nation, uns allen. Alles also Haushaltsexperten, die die Zusammenhänge nicht begreifen. Oder das nicht wollen.

Zuerst: Ja, die Umwidmung der Corona-Hilfen war nicht sauber gemacht, an dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gibt es nichts zu rütteln. Und auch mich verblüfft es, dass man im Finanzministerium nicht einmal aus Prinzip einen Plan B in der Tasche hatte. Daraus muss man lernen.

Aber wenn ich all die verstaubten Binsenweisheiten lese und höre, von der „Schwäbischen Hausfrau“ und dem Geld, das man nur ausgeben kann, wenn man eingenommen hat – herrjemine, dann fürchte ich, das andere Leute gar nichts gelernt haben.

Allein die Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine kosten Deutschland unsagbar viel Geld. Und eben nicht nur für die Bundeswehr oder Militärhilfen, was die Union ja immer toll findet. Nein, der Krieg kostet Milliarden wegen der Geflüchteten, die nach Deutschland kommen, er kostet Milliarden, weil der Ersatz für russische Erdgas eben nicht so spottbillig ist. Und das trifft eben wieder vor allem die mit dem kleinen Geldbeutel, das begreift offenbar auch nicht jeder.

Dazu kommen Folgen der Pandemie, die bis heute anhalten. Und zu all dem kommen riesige Aufgaben, die wir dringendst angehen müssen. Um den Klimawandel zu bremsen, braucht es keinen Kleber, sondern Knete, und zwar sehr, sehr viel. Und klimaneutral, aber auch digital muss unsere Wirtschaft werden, und auch das schnellstens, denn sie steht im Wettbewerb.

Niemand, der bei Verstand ist, wird das bezweifeln. Aber bei der Debatte um die Schuldenbremse wird all das plötzlich ausgeklammert. Transformation? Klimarettung? Krieg und Geflüchtete? Nein, das spielt keine Rolle, reden wir mal über die Schwarze Null und die Schuldenbremse. Und dann schießen die Schwarzen wieder auf alles, was ihnen sowieso nicht passt („Weg mit den Sozialleistungen!“), in manchen Medien liest man extrem altkluge Kommentare und der Otto vom Stammtisch ist fasziniert von den Summen: „60 Milliarden! Das ist viel!“ Dass Bund und Länder im vorigen Jahr 1800 Milliarden Euro eingenommen haben, dass sie im letzten Jahr der Regierung Merkel 150 Milliarden Finanzierungssaldo hatten – das muss man wohl nicht wissen, wenn man Meinung hat.

Marode Straßen, kein Breitbandnetz, miserable Eisenbahn: Wir haben doch alle erlebt, wie man ein Land kaputtsparen kann. Und wir erleben, wie das unserem Land immer mehr schadet. Was lernen wir daraus? Eine schwarze Null leistet erst einmal gar nichts. Andere Länder agieren anders, aktuell haben sie deutlich mehr Wirtschaftswachstum als Deutschland. Und Volkswirtschaften wie die USA oder China legen Wirtschafts- und Klimaprogramme auf, dass einem schwindlig wird. Nicht in die Transformation zu investieren, ist ruinös. Nicht in den Klimaschutz zu investieren, ist lebensgefährlich.

Die gleichen Leute aus Union und FDP, die uns beim Krieg in der Ukraine ständig ermahnen, besondere Aufgaben erforderten besondere Maßnahmen – genau diese Leute wettern gegen anere Ausgaben, als seien die Geflüchteten, die Dekarbonisierung und die digitale Revolution keine besondere Aufgabe. Und eben die Journalistinnen und Journalistinnen, die vorgestern noch kommentierten, für den Klimaschutz müsse man endlich ohne Wenn und Aber handeln – sie kommentieren heute, eine Reform der Schuldenbremse sei reines Politikversagen.

Ich weiß nicht, was diesen Leute wichtig ist. Bremse gerettet, Land kaputt? Auf einem zerstörten Planeten die schwarze Null anbeten?

Wir brauchen eine Lösung, um die enormen Probleme anpacken zu können, die wir anpacken MÜSSEN. Und für die Tunnelblicker von vorgestern haben wir schlicht keine Zeit.

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