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Fürs Lernen lernen

Wenn ich über Bildung nachdenke, werden viele sagen: „Natürlich, Bildung“. Und ja, ich war einmal Kultusminister in diesem Land, und ich war es gerne. Wir haben allerhand erreicht, was bis heute gilt, und ich hätte gerne noch mehr erreicht. Aber ganz ehrlich, das ist nicht der eigentliche Grund, warum mir Bildung ein besonderes Anliegen ist.

Mein Vater war Automateneinrichter in einer kleinen Fabrik. Meine Mutter saß beim Gubi an der Kasse. Abitur machen? Studieren? Das war beileibe nicht selbstverständlich bei uns. Ich konnte Abitur machen. Konnte Jura studieren. Anwalt werden, später Politiker. Ich sage das nicht, weil ich stolz darauf bin, sondern weil ich dankbar bin für ein Bildungssystem, das mir all das erlaubt und ermöglicht hat. Deswegen war ich schon immer Bildungspolitiker. Das war ich schon als Juso, als ich noch Schüler war. Den Wert von Bildung kann man begreifen. Ich habe ihn erfahren.
Genau deswegen kann ich auch die aktuellen Diskussionen um Schule und Bildung, um Unterricht und Betreuung nicht anders betrachten als aus dieser Perspektive. Bildung ist ein Wert und kein Kostenfaktor. Bildung ist eine Investition in unsere Zukunft und kein Almosen.

Nichts von dem, was ich gerade festgestellt habe, wird irgendeine demokratische Partei bestreiten, auch nicht in der jetzigen Krise. Doch wenn es darum geht, diese Feststellung in Taten zu übersetzen, kommt Sand ins Getriebe. Denn es scheint mir, als ob man sich in der Landesregierung zuletzt mehr Sorgen um die Automobilindustrie gemacht hat als um die Schulen. Versteht mich nicht falsch, die Autoindustrie ist enorm wichtig und sorgt für hunderttausende Arbeitsplätze. Aber Bildung und Betreuung sind eben auch enorm wichtig.

Ich habe es gut in diesen Zeiten, und meine Kinder haben es auch gut. Wir haben genügend Computer und Smartphones und auskömmliches (wenn nicht immer perfektes) W-Lan im Haus, wir haben die Möglichkeit, alles zu nutzen, was es im Home-Schooling an Möglichkeiten gibt. Und dennoch erlebe ich, dass es Probleme macht, zuhause das zu leisten, was sonst in der Schule geleistet wird. Ich glaube, das merken alle. Denn es fehlt das Miteinander der Gleichaltrigen in der Klasse, es fehlt die übliche Lernatmosphäre. Und es fehlt die Präsenz der Lehrer. Jawohl, viele von uns erfahren seit Wochen, was Lehrer jeden Tag tun, was sie können. Und dass wir es eben nicht annährend so gut können. Weil wir keine Lehrer sind.

Dass schon irgendein Unterricht möglich ist zuhause, wurde und wird viel berichtet in den Medien. Mein Problem damit ist, dass diese Berichte immer aus einer Blase kommen. Da berichten Journalisten über ihre Erfahrungen (gut gebildet, gut situiert), Politiker (ebenso), Prominente (nicht anders). Doch was ist mit den Kindern aus sozial schlechter gestellten Familien? Wo es an Computern fehlt, wo es kein W-Lan und keine Flatrate für das Smartphone gibt? Wo Vater und Mutter eben nicht im Home-Office sind, weil es auf Baustellen oder im Supermarkt nun mal kein Home-Office gibt?
Unterricht und Betreuung durch Profis ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit. Und sobald es irgend möglich ist, muss er wieder garantiert werden. Und ich sage jetzt etwas unpopuläres: Ja, viele unserer Lehrerinnen und Lehrer sind schon von alters her in der Risikogruppe. Aber wer an der Supermarktkasse sitzt, muss das auch tun, wenn er aus der Risikogruppe kommt. Und wer in der Altenpflege ist, auch. Und dort kommt man dem Gegenüber erheblich näher als beim Unterricht in der Schule. Ja, wir merken, dass Pädagogen systemrelevant sind, das ist gut so und das haben die Lehrerinnen und Lehrer auch verdient. Sie können sich dann aber auch nicht davor verstecken, dass sie dringend gebraucht werden.

Vor diesem Hintergrund stört mich zurzeit eine Menge. Vor allem stört mich, dass auch hier nicht öffentlich nachgedacht wird oder nicht einmal nachgedacht werden soll. Wie kann, wie muss Unterricht aussehen in Corona-Zeiten? Sind Schichtmodelle möglich, tage- oder stundenweise? Wie geht es weiter, wenn die Abschlussklassen ihre Prüfungen absolviert haben?

So weit seien wir noch lange nicht, heißt es dann aus dem Kultusministerium, als ob das ein Argument dagegen sei, sich jetzt mal in Ruhe Gedanken zu machen. Stattdessen taumelt man von Woche zu Woche weiter, und wenn die bundesweite Lage einen dann in Zugzwang bringt, ist guter Rat teuer. Warum können andere Bundesländer so viel schneller so viel klarere Ansagen machen? Weil sie Pläne in der Schublade hatten. Ja, wir fahren auf Sicht, das heißt es in Baden-Württemberg wieder und wieder. Aber ich kann mir doch überlegen, wo ich hinwill, wenn die Sicht wieder besser wird! Da fehlt nicht nur mir jede Perspektive. Sie fehlt auch vielen Lehrern, vielen Eltern. Und sie fehlt vor allem den Schülerinnen und Schülern. Und nicht nur da: Wir merken jetzt auch, wie wichtig die Betreuung in den Kitas ist. Auch und besonders wieder bei den Kindern, die zuhause eben keine optimalen Möglichkeiten haben. Kitas, ich sage es immer wieder, sind Bildungseinrichtungen und kein öffentlicher Spielplatz. Oder um es in aktueller Form zu sagen: Kitas sind systemrelevant für unsere Bildungslandschaft. Und wir brauchen auch hier einen Plan, der die größte Not abdeckt. Es ist sinnvoll, bei Notbetreuung an die Berufe der Eltern zu denken. Aber denken wir bitte auch an die Kinder. Denken wir bitte IMMER an die Kinder. Im Moment läuft es mir auch hier viel zu schwammig, zu sehr von der Hand in den Mund.

Richtig, als die Pandemie losbrach, musste es schnell gehen, alles kam unerwartet. Das will niemand bestreiten. Aber das ist inzwischen lange Wochen her. Und dass der Schulbetrieb irgendwann wieder hochgefahren werden muss, kommt weder unerwartet noch schnell. Wo sind die Ideen für ein besseres Lernen unter diesen Umständen? Für neue Modelle, die digitales Lernen zuhause und Präsenz in der Schule verbinden, um den Umständen gerecht zu werden? Ich bin mir sicher, dass sich an den Schulen viele Lehrerinnen und Lehrer gute Gedanken dazu machen. Offiziell und im Ministerium aber scheint es nur eine Art Schockstarre zu geben: „So wie früher geht es nicht. Und wann es wieder so geht, wissen wir nicht. Und so lange machen wir einfach nichts“.

Guter Bildung wird das nicht gerecht. Auch, weil viele konservative Politiker Bildung bis heute mit ihrer Weltanschauung verwechseln und vermischen. Am Beispiel der Gemeinschaftsschule habe ich einst erlebt, wie sehr eine auf jedes einzelne Kind ausgerichtete Bildung mit einem System kollidiert, das Kinder nicht als Individuen, sondern als uniforme Jahrgänge betrachtet. Alle sitzen in einer Klasse, haben exakt identische Begabungen und Fähigkeiten zu haben. Wer Glück hat, wird mit guten Noten belohnt, wer Pech hat, mit schlechten Noten bestraft. Individuelle Förderung? Nein, lieber Sitzenbleiben oder die Schulart wechseln.

Diese rückwärtsgewandten Sehnsüchte aus einer Zeit der Schiefertafeln. Tintenfässer und Rohrstöcke sind schon seit Jahrzehnten grottenfalsch. In Zeiten von Corona sind sie es gleich doppelt. Wir erleben, dass eine umfassende Betreuung von Kindern unerlässlich ist, um die Chancen auf beste Bildung und entsprechende Karrieren nicht an den Status des Elternhauses zu hängen. Wir erleben, dass die Kritik (auch und gerade der SPD) am digitalen Versagen des Kultusministeriums („Ella“, erinnert sich noch jemand?) eben kein kleinliches Nörgeln war, sondern unsere Schüler und Lehrer gerade jetzt in einem Wirrwarr aus selbst gestrickten Notlösungen zurückließ, als es um digitalen Unterricht ging. Und ja, es gibt Schulen, die das prima meistern. Und nein, das schafften diese Schulen nicht durch die tolle Schulpolitik des Landes, sondern in Eigenregie.

Ich bin gespannt, ob das Kultusministerium verstehen wird, dass wir in dieser Krise etwas lernen müssen. Dass wir die Schulen, die es am besten machen, zum Vorbild nehmen. Dass wir erkennen, wo ein digitales Klassenzimmer eine Ergänzung zum normalen Unterricht sein kann, vielleicht auch in Form von Lern- und Hausaufgabenbetreuung zuhause. Wir wissen, wie viele Kinder neben der Schule zu Nachhilfeanbietern müssen. Das ist, ganz ehrlich, kein Ruhmesblatt für unsere Schullandschaft. Und einmal mehr bleiben die auf der Strecke, denen es zuhause an Unterstützung fehlt. Wo die Eltern so gar keinen Bezug zu Bildung haben, haben sie nämlich auch kein Geld für Nachhilfe übrig.

Unter den jetzigen Umständen kann ich mir nicht vorstellen, dass es in diesem Schuljahr, also bis zu den Sommerferien, wieder einen Unterricht „wie früher“ geben wird. Und Pessimisten befürchten, dass es sogar noch viel länger dauern könnte.

So lange können wir aber nicht warten. Nicht die Familien, nicht die Kinder, nicht unsere ganze Gesellschaft. Wir müssen Pläne schmieden, Zeitkorridore definieren, müssen den Schulen die Möglichkeit geben, mit einer klaren Ansage verlässlich planen zu können. Dabei geht es nicht einmal um das wann, sondern vor allem um das wie. Und wir müssen aufhören, den Kopf in den Sand zu stecken und zu hoffen, dass wir Schule und Unterricht in einer sich wandelnden Welt in jahrzehntealte Formen einfrieren können. Wir müssen neue Wege gehen, neue Modelle einführen. Wir müssen Bildung neu erfinden und diese Neuerungen stetig und in verlässlichen Schritten einführen und umsetzen. All das galt schon vor Corona und wird auch danach gelten. Die aktuelle Lage hat es nur noch deutlicher gemacht. Wir müssen jetzt etwas fürs Lernen lernen.
Euer
Andreas Stoch

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