
Dass die meisten Leute Fußball unterhaltsamer finden als Politik, hat verschiedene Gründe. Ein Fußballspiel ist in aller Regel nach etwas mehr als 90 Minuten entschieden, während es in der Politik viel länger dauern kann. Und beim Fußball verstehen (fast) alle die Regeln, bei der Demokratie bin ich mir da nicht mehr so sicher.
Dass ich mir nicht mehr so sicher bin, ging schon nach der Bundestagswahl los, als es das Gemecker über das BSW gab. Können die an der Fünfprozenthürde scheitern, wo sie doch FAST fünf Prozent hatten? Sorry, aber würde man im Fußball ein Tor zugesprochen bekommen, weil man doch nur ganz knapp danebengeschossen hat? Nein, entweder Tor oder nicht, sonst gibt es keine Regeln und auch kein Spiel.
Und weiter geht es: Nein, CDU und SPD hatten nicht die absolute Mehrheit der Stimmen, sie haben aber die absolute Mehrheit der Sitze im Bundestag. Wegen der Regeln, die es übrigens schon immer gab, über die man aber jetzt häufiger spricht, weil immer mehr Leute sie nicht mehr kennen.
Nun also der Mitgliederentscheid über den Koalitionsvertrag für die nächste Bundesregierung. Ja darf die SPD das denn? Ja darf sie, hat sie auch immer wieder gemacht, zum Beispiel im Jahr 2013. Oder im Jahr 2018. Aber das wissen viele nicht und wundern sich. Wer sich im Fußball nicht auskennt, wird sich auch über ein Abseits wundern. Nur wundern sich dort weniger Leute, und sie wundern sich verschämt im Stillen. In der Politik wundert man sich laut, und die Medien wundern sich mit.
Und nun: Zustimmung beim Mitgliederentscheid. Hohe Zustimmung sogar und manche steile Spekulation der vergangenen Tage entlarvt sich als ebenso wild wie unbegründet. 84 Prozent für den Koalitionsvertrag, das ist nach allen Regeln eindeutig. Und, wenn ich mir diese Wertung gestatten darf, auch sehr erfreulich.
Aber was tun, wenn jemand die Regeln einfach nicht versteht? „Ja, 84 Prozent, aber bei nur 54 Prozent Beteiligung“. Da kommen wieder die, die im Fußball wenigstens ein halbes Tor wollen. Die SPD-Mitglieder haben entschieden, in ausreichender Menge, mit klarem Ergebnis. Was soll denn nun noch sein?
Ach so, nur 84 Prozent von 54 Prozent. Von denen, die nur 16,4 Prozent der Stimmen geholt hatten, bei nur 82,5 Prozent Beteiligung. Das macht dann … Schmarrn.
Weiß jemand noch, wie das Votum bei früheren Mitgliederentscheiden ausfiel? 2013 waren 76 Prozent der abstimmenden Mitglieder für eine Koalition mit der CDU, 2018 waren es 66 Prozent. Damals schrieben die Medien, es gebe eine „breite Zustimmung“ in der SPD. Und heute sind 84 Prozent Zustimmung plötzlich wackelig?
Ich rede viel über Demokratie und ihre Vermittlung, für junge Menschen wie für alle anderen. Und ja, mir fällt als Vergleich eben immer wieder der Fußball ein. In einem Spiel gewinnt der, der mehr Tore schießt. Auch wenn die anderen besser spielten oder schöner, wenn sie Pech hatten oder verletzte Leistungsträger. Und auch das schönste Abseitstor ist und bleibt eben ein Abseitstor. Wer das nicht akzeptiert, kann nicht Fußball spielen.
Wir erleben im Land, wie selbst demokratische Parteien sich immer schwerer tun mit den Regeln. Die FDP verspricht sich etwas von einer künstlichen Verkleinerung des Landtags, und dass das erste Volksbegehren bereits deutlich gescheitert sind, interessiert sie nicht, sie ziehen jetzt noch einmal los. Das Volk ist gefragt, aber nur, so lange es der eigenen Position zustimmt. Wenn nicht, müssen wir das nochmal wiederholen, oder?
Was wir im Bund erleben, ist ähnlich besorgniserregend: Immer mehr Menschen verstehen die Regeln nicht, empören sich über Abläufe und Ergebnisse, die sie vor wenigen Jahren noch gar nicht zur Kenntnis nahmen. Früher machte man sich schlau, wenn man etwas nicht verstand. Man wollte verstehen. Heute reagieren viele Leute anders. Ich verstehe etwas nicht? Dann bin ich nicht neugierig, sondern dagegen.
Fußball hat durchaus etwas von Politik. Man muss seine Gegner nicht mögen, man darf für den eigenen Sieg trommeln, Fahnen schwenken, sich heiser schreien, man darf Tag und Nacht daran arbeiten, alle anderen zu übertreffen. Aber ob es dann auch klappt, zeigt sich im Spiel, und dort wird nach klaren Regeln entschieden. Sonst hat das Spiel keinen Sinn.
Ich kann vielen Leuten wünschen, jetzt erst einmal tief Luft zu holen und die nächste Bundesregierung erst einmal ins Amt kommen zu lassen, ehe man weitermeckert. Und so lange einfach mal ein paar Regeln unserer Demokratie durchlesen, was beim Beobachten des künftigen Spielverlaufs enorm nützlich ist. Mindestens bei 80 Prozent der Hälfte.