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Hoffen statt Wissen?

„Optimisten sind meist nur schlecht informiert“, heißt es. Ich glaube nicht, dass das stimmt, aber ich verstehe worauf der Spruch hinauswill: Ein Optimismus, der alle Realitäten verkennt, kann auch keine realistische Hoffnung bieten.

Ja klar, wir sind schon wieder bei Corona, ich kann es auch nicht ändern. Und ich kann es auch nicht ändern, dass ich an vielen Punkten immer zorniger werde. Viel zorniger, als ich es im Frühjahr werden wollte. Damals haben wir uns in der Opposition vorgenommen, diese ernste Sache nicht zum Anlass für unnötiges Polittheater zu nehmen. Wir nahmen uns vor, die Sachargumente in den Vordergrund zu stellen, die Experten zu befragen.

All das ist jetzt bald neun Monate her. Und ich habe die Nase voll.

Ich habe die Nase voll davon, dass Leute auch nach all dieser Zeit nicht begreifen wollen, was hier eigentlich passiert, dass man den Kopf in den Sand steckt und einem Optimismus nachläuft, der ganz offensichtlich alle Realitäten verkennt. Und damit meine ich nicht nur Corona-Leugner und andere Wirrköpfe. Die sind laut, aber zum Glück eine winzige Minderheit. Nein, ich meine auch viele Mitglieder unserer Landesregierung, und deren Irrtümer sind leider ganz schön folgenreich.

Im Nachhinein ist man immer schlauer. Aber ich muss jetzt einfach mal anmerken, dass man auch in Echtzeit schlauer sein konnte. An Ostern, jawohl schon an Ostern kritisierte die SPD die pauschalen Schließungen von Schulen und Kitas. An Pfingsten stellten wir das Konzept „Das krisenfeste Klassenzimmer“ vor, für ein Maximum an Flexibilität, für viele Schritte zwischen „Alles zu“ und „Alles auf“. Vor dem Sommer interessierte das aber niemanden so recht. Die Zahlen sanken doch, hörten wir. Und dass fast alle Wissenschaftler eine zweite Welle im Herbst ankündigten, interessierte auch niemanden. Nach den Sommerferien, so die Optimisten, sei das Virus bestimmt weg.

Nach den Sommerfrerien war es immer noch da. Es kam kein krisenfestes Klassenzimmer, sondern eine Pauschalöffnung ohne Abstufungen. Fenster auf, hieß es, es sei ja noch nicht kalt und bis zu den Herbstferien genüge das. Und nach den Herbstferien, so die Optimisten, sei das Virus bestimmt weg.

Nach den Herbstferien war es immer noch da. Mehr noch, es legte wieder zu, ganz genau so, wie man es seit dem Frühjahr angekündigt hatte. Doch die Optimisten waren bis ins Mark erschüttert. Eilig bastelte man neue Shutdown-Pläne, rechnete mit Infektionszahlen, die so optimistisch waren, dass sie eben alle Realitäten verkannten. Die Landesregierung wollte damit durch den Winter kommen, zwei Wochen später war alles reif für die Tonne.

An den Schulen kam weiter kein krisenfestes Klassenzimmer, man hielt trotzig an einer pauschalen Öffnung fest. Es wurde immer kälter in den Klassenzimmern, aber Lüften blieb das Mittel der Wahl, abgestufte Unterrichtspläne oder die Abschaffung von Luftreinigern war tabu, denn über so etwas reden ja nur Pessimisten. Die Optimisten waren sich sicher: An Weihnachten ist das Virus bestimmt weg. Zur Sicherheit verkündete man schon mal Lockerungen und diskutierte, ob Glühwein-Gelage und Böller an Silvester zu den unveräußerlichen Menschenrechten zählen oder nicht.

Die Infektionszahlen gingen nicht runter, doch schon diese Erkenntnis war jetzt nicht mehr opportun. Viele Wissenschaftler, die im Frühjahr noch die Debatte beherrschten, wurden jetzt nicht mehr gehört, stattdessen wurde jeder Wirrkopf, der in Berlin Verschwörungsmist zum Besten gibt, minutenlang in den „Tagesthemen“ gezeigt. Es kam immer noch kein krisenfestes Klassenzimmer, stattdessen gab es einen unglaublichen Hickhack um den Start in die Weihnachtsferien, heute so und morgen so und übermorgen alles wieder anders. Klar aber: Auf keinen Fall abgestufte Unterrichtsmodelle, so was will nur die SPD, die Landesregierung bleibt optimistisch!

Könnte Ihr verstehen, was mich zornig macht?

Jetzt, wenige Wochen vor Weihnachten, muss diese Landesregierung, muss diese besonders uneinsichtige Kultusministerin die Notbremse ziehen. Es wird viel zu Bruch gehen bei dieser Notbremsung. Dabei hätte sie nie sein müssen.

Denn die Lage, die wir jetzt haben, war absehbar. Sehr deutlich absehbar. Glaubt mir, dass die SPD keine Kristallkugel im Keller hat, mit der man in die Zukunft sehen kann. Hätten wir so ein Ding, hätte sich manche unsinnige Querele der vergangenen Monate verhindern lassen. Nein, keine Kristallkugel, einfach nur allgemein zugängliche Informationen, die Aussagen von Experten, etwas guter Wille, zuzuhören. Und eine Überzeugung, dass Optimismus, der die Realitäten verkennt, falsch ist.

Exakt einen Monat vor Heiligabend habe ich die versprochenen Lockerungen von Weihnachten bis Neujahr kritisiert. Ich mag Weihnachten, ich feiere es auch gerne, aber die Zahlen gaben schon damals einfach keine Lockerungen her, und es war absehbar, dass wir diese populäre Geste würden doppelt und dreifach büßen müssen. Was war ich für ein Pessimist! Was war ich für ein Spielverderber!

Inzwischen sind die Lockerungen deutlich reduziert, und es ist fraglich, ob es überhaupt welche geben wird. Es war viel zu viel Optimismus im Geschäft und viel zu wenig Realität, viel zu viel Hoffen und viel zu wenig Wissen.

Aber bei der Landesregierung ändert sich nichts. Die Kultusministerin will schon mal im Alleingang ganze Wissenschaftsakademien abkanzeln, weil sie es besser weiß. Und der Ministerpräsident weigerte sich noch vor wenigen Tagen, jedwede Aussage über die Lage im Januar zu treffen. Warum? Hofft noch irgendjemand, es werde dem Virus an Silvester zu laut im Ländle?

Richtig, viele hoffen auf die Impfstoffe. Ich hoffe auch darauf. Aber ich weiß eben auch, dass die Impfungen selbst dann bis in den kommenden Sommer dauern werden, wenn nichts schiefgeht und sich all die ehrgeizigen Zeitpläne einhalten lassen. Wenn es also so flutscht, wie wir es bei deutschen Großprojekten gewöhnt sind.

Wir werden noch etliche Monate mit der Pandemie leben müssen. Und es wäre verdammt noch mal endlich Zeit, dieser unangenehmen Tatsache ins Auge zu blicken und eine nachhaltige, verlässliche Strategie zu verfolgen, wie wir diese Zeit meistern. Das gilt für die Schulen wie für unsere Wirtschaft, für die Kultur und die Gastronomie, die Kliniken. Es wäre verdammt nochmal Zeit, dass sich die Pandemiemaßnahmen in diesem Land nachvollziehbar am Infektionsgeschehen orientieren und nicht an Profilneurosen einzelner Politikerinnen und Politiker. Dass es bei Einschränkungen nicht um Pauschalen geht und nicht um Symbolkraft, sondern einzig und allein um ihre Wirkung. Wenn ältere Schüler gefährdeter sind als jüngere, dann dürfen die Kleinen in die Schule und die Großen nicht. Ist das denn so schwer?

Es wäre verdammt nochmal Zeit zu verstehen, dass niemand in diesem Land böse wäre, wenn man harte Einschnitte schneller als erwartet wieder zurücknehmen kann. Dass es aber fatal ist, wenn man laufend Lockerungen andeutet und am Ende das Gegenteil kommt.

Kleine Kinder müssen lernen, dass sie nicht unsichtbar werden, wenn sie sich die Augen zuhalten. Es wäre höchste Zeit, dass diese Landesregierung endlich begreift, dass das Virus sich nicht übermorgen verdrücken wird, nur weil es in Baden-Württemberg noch keine Pläne für übermorgen gibt.

Euer Andreas Stoch

2 Gedanken zu „Hoffen statt Wissen?

  • 14. Dezember 2020 um 13:43 Uhr
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    Lieber Herr Stoch, das ist ein super Kommentar, dem ich rundum zustimme!!
    Auch die Forderungen, dass es in Kitas anders laufen muss, blieben ungehört! Die Erschöpfung ist hoch, der Krankenstand auch. Viele Kinder mehr als irritiert. Soweit mein fachlicher Blick.

    Mein Blick als Mutter einer Tochter im Abiturjahrgang ist ebenso ernüchternd!! Wer sieht eigentlich, was unsere Jugendliche seit Wochen leisten. Es ist so kalt in den Klassenräumen, wenn sie stundenlang Klausur schreiben, können sie schier den Stift nicht mehr halten vor Kälte. Die Kinder und Jugendlichen sind komplett vergessen, ich bin tief erschüttert darüber. IMMER noch spielt das Wohl unserer Kinder und Jugendlichen keine Rolle. Alles Sonntagsreden, von wegen Chancengerechtigkeit usw. Es ist so schrecklich!! Bitte erheben Sie hier Ihre Stimme, es wäre höchste Zeit den Kindern, Jugendlichen, Erzieher*innen und Lehrer*innen zu danken, wofür sie seit Wochen herhalten und was sie oft unmenschliches leisten müssen.

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  • 14. Dezember 2020 um 15:18 Uhr
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    Super Beitrag, Andreas. Ivh bin froh, dass du unser Landtagskandidat bist. Deine Kritik trifft voll zu. Ich gebe dem Kultusministerium die Note 6

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